INTERVIEW - "Das demokratische Prinzip darf nicht angetastet werden": Hans-Jürgen Papier befürchtet eine schleichende Aushöhlung des nationalen Rechts

Alexander Kissler, Berlin

vom 25.07.2021

Der Streit zwischen Europäischer Kommission und Bundesregierung spitzt sich durch das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland zu. Der ehemalige Verfassungsrichter Papier pocht auf den Identitätskern des Grundgesetzes. Die Europäische Union sei kein Bundesstaat und habe keine Allzuständigkeit. © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung
Deutschland und die Europäische Union sind nicht immer so friedlich verbunden, wie es ihre Flaggen hier sind.
Krisztian Bocsi / Bloomberg

Herr Professor Papier, die Europäische Kommission ist unzufrieden mit dem Bundesverfassungsgericht und hat deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet. Auslöser ist ein Urteil von Mai 2020. Die Karlsruher Richter erklärten damals, die Europäische Zentralbank habe mit dem Ankaufprogramm für Staatsanleihen ihre Kompetenzen überschritten. Nun steht einmal mehr die Frage im Raum: Welches Recht gilt denn nun in Deutschland? Europäisches oder nationales?

Die Grundsatzfrage lautet, ob europäisches Recht in jedem Fall Vorrang geniesst vor dem nationalen Recht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte das Anleihekaufprogramm bereits in einem Urteil gebilligt. Dagegen wandte sich Karlsruhe im Mai 2020. Der EuGH räumt dem europäischen Recht einen prinzipiellen und ausnahmslosen Vorrang ein.

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Der Jurist Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. ;
Jürgen Heinrich / Imago

Worauf können sich die deutschen Verfassungsrichter berufen?

Auch das Bundesverfassungsgericht akzeptiert grundsätzlich den Vorrang des europäischen Rechts. Aber der jeweilige Rechtsakt darf sich nicht ausserhalb des Mandats bewegen, das die Mitgliedstaaten der EU gegeben haben; er darf, wie es heisst, nicht ultra vires sein, nicht jenseits der eingeräumten Kompetenzen. Insbesondere darf der Identitätskern der deutschen Verfassung nicht beeinträchtigt werden. Und zu diesem Kern gehört die parlamentarische Demokratie mitsamt der Haushaltsautonomie des vom Volk gewählten Bundestages. Nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts hatte die EZB mit dem Anleihekaufprogramm ihre währungspolitische Zuständigkeit gemäss dem europäischen Vertragsrecht eindeutig überschritten. Karlsruhe wirft im Beschluss vom Mai 2020 der EZB vor, den Massstab der Verhältnismässigkeit missachtet und "objektiv willkürlich" geurteilt zu haben.

Für den ehemaligen Verfassungsrichter Andreas Vosskuhle ist der Anspruch auf einen absoluten Vorrang des EU-Rechts "schwer vereinbar" mit dem Grundgesetz. Wer einen solchen absoluten Vorrang behaupte, der "möchte eine andere Bundesrepublik". Es steht also viel auf dem Spiel.

Nicht erst seit heute. Der Streit um Prinzipien war latent immer vorhanden. Völlig zu Recht macht das Bundesverfassungsgericht diesen prinzipiellen Vorbehalt geltend. Die Europäische Union ist kein Bundesstaat mit Allzuständigkeit, sie hat keine Kompetenzkompetenz. Als Vertragsunion souveräner Staaten muss sie es akzeptieren, in Ausnahmefällen verfassungsrechtliche Grenzen durch nationale Gerichte aufgezeigt zu bekommen.

Die Bundesregierung steht nun vor der heiklen Aufgabe, eine Stellungnahme abgeben zu müssen. Sie kann sich dann nur an die Seite der EU stellen oder an die Seite des Bundesverfassungsgerichts. Wie kommt man aus einem solchen Dilemma heraus?

Letztlich kann die Bundesregierung nur auf die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts pochen und ihre Bindung an dessen Rechtsprechung betonen. Mit juristischen Mitteln ist dieser prinzipielle Streit nicht zu lösen.

Andreas Vosskuhle rätselt über den Grund, den die Kommission zu ihrem Verfahren gegen Deutschland bewegt haben könnte. "Für normale Bürgerinnen und Bürger", sagte er, dränge sich nur eine Motivation auf, nämlich das Bestreben, "eben doch auf kaltem Wege den Bundesstaat einzuführen und die Kompetenzkompetenz nach Brüssel zu verschieben." Kann man diesen Eindruck gewinnen?

Ich denke nicht, dass man diesen Eindruck haben muss. Auch glaube ich, anders als Vosskuhle, nicht an ein gemeinsam abgestimmtes Vorgehen, ein "kollusives Zusammenwirken" von Kommission und Gerichtshof zur Einführung eines europäischen Bundesstaats. Aber die Gefahr einer schleichenden, kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten besteht - und zwar vor allem über die Auslegung und Anwendung des europäischen Vertragsrechts durch den EuGH. Die staatliche Souveränität der Mitgliedstaaten muss grundsätzlich bewahrt werden. Im Rahmen des bestehenden Grundgesetzes darf aus der EU kein Bundesstaat werden.

Ein Sprecher der Kommission warf dem Bundesverfassungsgericht vor, durch das Urteil von Mai 2020 die "Einheitlichkeit des Unionsrechts" zu bedrohen: "Das letzte Wort über EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen." Das klingt nach einer finalen Machtprobe.

In der Wortwahl überzeichnen beide Seiten. So ist das bei einem Streit um Prinzipien. Im EU-Vertrag bekennt sich die Union ausdrücklich, die "jeweilige nationale Identität" zu wahren. Die EU ist auf jene Kompetenzen beschränkt, die ihr vom europäischen Vertragsrecht zugewiesen werden. Man spricht deshalb vom Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Ich habe grosses Verständnis, wenn ein nationales Höchstgericht auf einen Identitätsvorbehalt pocht, der aus seiner Verfassung folgt.

Der EuGH hat einen grundsätzlich anderen Ausgangspunkt.

Der Europäische Gerichtshof geht von der Autonomie oder Eigenständigkeit des europäischen Rechts aus. Es darf in dieser Sichtweise in keinem Fall von nationalen Gerichten verworfen werden. Karlsruhe hingegen betont, dass sich die Gemeinschaftsgewalt von den Mitgliedsstaaten ableitet, und folgert daraus eine prinzipielle Überprüfungsbefugnis über das Unionsrecht. Wenn die Union in den Identitätskern der deutschen Verfassung eingreift, handelt sie ultra vires. Da muss sich das Bundesverfassungsgericht zu Wort melden.

Was aber gehört zum Identitätskern?

Darüber lässt sich streiten. Das Anleihekaufprogramm der EZB wurde laut Karlsruhe nicht gegen dessen wirtschaftspolitische Auswirkungen abgewogen und verstiess somit gegen das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sei damit unterlaufen worden.

Die Volkssouveränität gehört unstrittig zum Identitätskern.

Das demokratische Prinzip darf nicht angetastet werden, nicht einmal durch Änderung des Grundgesetzes. Es ist eine verbindliche Schranke der Integration.

Wie verhält sich das demokratische Prinzip zur Verlagerung nationaler Kompetenzen nach Brüssel?

Da liegt in der Tat ein Spannungsverhältnis vor. Das Grundgesetz ermächtigt ausdrücklich in Artikel 23 zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Integration in die EU ist sogar ein Staatsziel. Allerdings dürfen die Staatsstrukturprinzipien nicht berührt werden, etwa die demokratische Ordnung. Wann aber wird diese Schwelle überschritten? Zum integrationsfesten Identitätskern gehört etwa die Haushaltsautonomie des Bundestags, weil in ihr sich die Volkssouveränität manifestiert. Wenn Deutschland ohne Zustimmung des Bundestags unüberschaubaren und unbegrenzten Haftungsrisiken ausgesetzt ist, kann die Verantwortung des vom Volk gewählten Parlaments ins Leere laufen.

Eine Klage gegen das Aufbauprogramm der EU nach der Corona-Krise, "Next EU", liegt dem Bundesverfassungsgericht ebenfalls vor. Bewegen wir uns auf eine Zeit ständiger Konflikte zwischen nationalem und europäischem Recht zu?

Wie ich bereits sagte, die problematische Spannungslage ist seit langem latent gegeben und könnte wieder zu einem aktuellen Spannungsfall führen. Ich hätte der Kommission geraten, kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten, zumal der konkrete Anlass für den Streit letztlich ausgeräumt ist. Manchmal ist es klüger, einen Streit nicht bis ins Letzte auszutragen. Letztlich kann er juristisch auch nicht gelöst werden. Einer meiner Vorgänger, Roman Herzog, sagte einmal sinngemäss: Stoppt endlich den EuGH - um die schleichende Aushöhlung des nationalen Rechts zu verhindern. Anderseits wusste neben vielen anderen auch ein ehemaliger Präsident des EuGH wie Vasilios Skouris: Wer europäisches Recht sät, wird Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ernten. Grundsätzlich ist die Politik nun am Zug, nicht die Justiz.

Das heisst?

Zusammen mit dem EU-Parlament setzt der Rat mit seinen Regierungsvertretern europäisches Recht. Wenn dort die Rechtsetzungsmaschine angeworfen wird und mit immer höherem Tempo läuft, wird es immer mehr Urteile des Europäischen Gerichtshofs geben. Die Politik sollte genauer vorab prüfen, ob eine neue europäische Norm wirklich notwendig ist. Da gilt der alte, leider viel zu selten berücksichtigte Satz: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, das Gesetz zu unterlassen.


Quelle: Hans-Jürgen Papier befürchtet eine schleichende Aushöhlung des nationalen Rechts (msn.com)